Die Agrarwirtschaft präsentiert am Berliner Messegelände die heile Welt am Land. Um die Realität geht es in den Hinterzimmern
Kurz nach 9 Uhr in der Früh bei der Grünen Woche in Berlin. Österreich-Stand. Es wird verkostet. Der aromatisierte weinhaltige Cocktail aus österreichischen Hanfblättern. „Gott sei Dank simma nit mit dem Auto da. Bis morgen wird’s schon wieder gehen“, sagt ein Funktionär, stößt auf die Weltneuheit aus dem Burgenland an. Erster Schluck, anerkennendes Nicken. Dann wird’s hektisch.
Grund ist der Tross rund um Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig.
Dieser schiebt sich in Richtung Burgenlandstand vor. Eilig bringen sich alle in Stellung, jeder will mit aufs Foto. Händeschütteln, Flasche in die Kamera halten, lächeln! Fertig. Weiter geht’s. Zumindest für den Minister, der zu einem Fernsehinterview umgeleitet wird. Keine Zeit zum Verkosten, vermutlich ist er dankbar. Müsste er bei jedem Aussteller Speck, Käse, Wein und diverse Schnäpse verkosten, wäre der Tag spätestens zu Mittag gelaufen. Da können die Aussteller aus Kärnten auch nicht helfen. Sie sind mit Bergen von Knoblauch nach Berlin angereist. Teils zu Pulver oder Trunk verarbeitet. Senkt Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker, steht auf dem Verkaufspult.
Simone Hoepke
Minister Norbert Totschnig auf Tour: Händeschütteln und lächeln fürs Foto bei jedem Österreich-Aussteller
Die Grüne Woche, Nabelschau der Agrarwirtschaft, ist nichts für Menschen mit empfindlichem Magen. Überall „Fressstände“. Fischbrötchen von der Nordsee, Salami aus Frankreich, Elch-Burger aus Schweden. Dazu Alkohol, viel Alkohol. In jeder Aufmachung. Den armenischen Brandy gibt’s wahlweise in Glasflaschen, die in Form von Delfinen, Kobras oder Schusswaffen daher kommen. Kostprobe? Gibt’s um 2 Euro.
Die Besucher lassen sich nicht lange bitten. Ein Beweis dafür biegt gerade um die Ecke. Eine Männerrunde. Jeder der Clique steckt in Lederhosen, die weißen Stutzen über die noch weißeren Waden gezogen, Bierbecher in der Hand. Die zentrale Frage der Herren: Wo geht es hier zum Stand von Mallorca, bei dem es den guten Whiskey geben soll. Es ist 11.15 Uhr.
Pferde in der Manege
Auch in der Tierhalle ist einiges los. Der Zuchtbulle Condor wurde ebenso in die Stadt gekarrt wie das Angora-Kaninchen. Über der Arena dröhnt Reinhard Fendrichs „Macho Macho“, die Pferde in der Arena scheinen davon wenig angetan. Züchter von Eseln, Ziegen, Schafen – sie alle warten vor der Arena auf ihre Auftritte.
Wie der Züchter des Angorakaninchens. Vier mal im Jahr wird so ein Kaninchen geschoren, erklärt Bernd Graf von der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen. Ausbeute: Bis zu zwei Kilo Angorawolle pro Jahr. „Hat man in den 1970er Jahren noch 220 D-Mark pro Kilo bekommen, sind es jetzt 25 Euro.“ Kein großes Geschäft also. Zumindest nicht für die Europäer. Wer Angoraunterwäsche trägt, kann sich ziemlich sicher sein, dass diese aus China kommt, sagt ein Züchter. Und schiebt nach, dass er lieber nicht wissen will, unter welchen Umständen diese Tiere leben.
Simone Hoepke
Züchter von Angorakaninchen bei der Grünen Woche: „25 Euro pro Kilo Wolle“
Hinter der Kulisse
Am Österreich-Stand haben sich in der Zwischenzeit die Bierbänke gefüllt. Auf rot-weiß-rot-karierten Tischdecken viel Bier, viel Bratwurst. Dazu das x-te „Prosit der Gemütlichkeit“ von den Trachtenmusikanten. In einem versteckten Kammerl nebenan sitzt Wolfgang Burtscher bei einem „Kamingespräch“ (ohne Kamin).
Der Vorarlberger ist seit April 2020 Generaldirektor der Generaldirektion Landwirtschaft und ländliche Entwicklung der EU-Kommission. Bei seinem Amtsantritt habe sich alles um die Frage gedreht, wie die Landwirtschaft nachhaltiger werden kann. Mit dem Ukraine-Krieg wurde die Versorgungssicherheit zum Top-Thema. Ein klassischer Zielkonflikt. Eine Reduktion von Pestiziden und Kunstdünger würde kurzfristig die Erträge reduzieren, erläutert Burtscher, was Agrarier hinter den Heile-Welt-Kulissen der Messestände diskutieren.
Aus Sicht von Österreichs Agrarminister Totschnig geht es bei der Grünen Woche darum, „Allianzen zu schmieden“ und „Flagge zu zeigen“. Binnen zehn Jahren ist die Zahl der Bauern europaweit von 12 auf 9 Millionen gesunken. Die bewirtschaftete Fläche blieb unverändert, die Höfe werden größer. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Was in Österreich als groß gilt, grenzt aus polnischer Sicht an Liebhaberei. Im Vergleich zu den USA oder Australien hat Europa eine relativ kleinstrukturierte Landwirtschaft, die sich dennoch am Weltmarkt behaupten muss.
APA/AFP/ODD ANDERSEN
„Massentierhaltung braucht kein Schwein“, hieß es etwa auf einer riesigen Schweinefigur, die Demonstranten hinter sich herzogen.
Mit Riesenschweinen für die Agrarwende
Bauernproteste. Parallel zur Agrar- und Ernährungsmesse „Grüne Woche“ gingen am Samstag in Berlin mehr als 1.000 Landwirte, Tier- und Umweltschützer aus ganz Deutschland für eine umweltschonendere Landwirtschaft auf die Straße. Mit 55 Traktoren waren schon am Morgen Bäuerinnen und Bauern in Richtung Brandenburger Tor aufgebrochen.
„Massentierhaltung braucht kein Schwein“, hieß es etwa auf einer riesigen Schweinefigur, die Demonstranten hinter sich herzogen. „Agrarindustrie tötet!“, „Insekten schützen“ und “Für Gentechnik fliege ich nicht“, lauteten andere Slogans. In der Luft schwebte eine Insektenfigur. Veranstalter der Demo war die Initiative „Wir haben es satt“, ein Bündnis aus Bauern, Klima- und Tierschützern sowie weiteren Verbänden.
Die Landwirte überreichten dem deutschen Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) eine Protestnote. Sie fordern etwa faire Erzeugerpreise, Sozialleistungen, die ökologischen Konsum möglich machen, und mehr Ackerflächen für den Anbau menschlicher Nahrung statt für Futter.
Die Reise zur Grünen Woche fand auf Einladung des Landwirtschaftsministerium statt.