Österreich hat kein Migrationsproblem, sagt Maria Katharina Moser.
KURIER: Österreichs Schengen-Veto, um der irregulären Migration, wie Kanzler Nehammer es nennt, beizukommen und Demos gegen ein Asyl-Quartier in Kindberg. Bleiben Sie dabei, dass Österreich kein Migrationsproblem hat?
Maria Katharina Moser: Ja. Österreich hat große Probleme, die bearbeitet werden müssten: Klimakrise, Armut, Pflege. Statt alle Kraft in die Lösung dieser Probleme zu stecken, dramatisiert man die Antragszahlen, obwohl die Zahl der Schutzsuchenden, die in Österreich bleiben wollen, konstant bei rund 20.000 ist. So schafft man eine Krise, mit der dann alle beschäftigt sind, und hat erfolgreich abgelenkt von anderen Problemen.
Die über 100.000 Asylansuchen 2022 sind real. Haben Sie Sorge, dass die Stimmung ins Negative und Destruktive kippt?
Die entscheidende Zahl sind die rund 20.000 Asylwerbenden in Grundversorgung, das sind die Menschen, die hier Schutz suchen, die anderen ziehen weiter. Ich erlebe viele Menschen, die solidarisch sein wollen, denen es aber schwer gemacht wird beispielsweise bei der Aufnahme von Vertriebenen aus der Ukraine. Die Hilfsbereiten in Österreich gelangen an ihre Leistungsgrenzen. Sie können sich durch die Wirtschaftskrise die Wohnraumspenden oft nur mehr schwer leisten und erhalten nicht ausreichend Unterstützung vom Staat.
Wie kann das Ende der Hilfsbereitschaft abgewendet werden außer durch staatliche Alimentation?
Es gibt eine ethische Grundhaltung, die wir schon in der Bibel finden: die „goldene Regel“. Diese besagt: Was Du willst, dass Dir die Menschen tun, das tue auch ihnen. Es geht um Empathie. Diesen Grundsatz muss auch die Politik verfolgen. Wir haben schon im Flüchtlingsjahr 2015 gesehen, dass überall dort, wo persönlicher Kontakt entsteht, die Hilfsbereitschaft steigt und die Vorurteile sinken. Ablehnung von Menschen auf der Flucht gibt es oft dort, wo das Problem abstrakt ist.
Das Schengen-Veto und das Asylquartier in Kindberg sind nicht abstrakt, sondern real.
Das stimmt. Ein Quartier für rund 250 Menschen ist relativ groß und wir wissen, dass je kleiner ein Quartier, desto leichter die Integration. Wir wissen aber auch, dass durch direkten Austausch wie Bürgerforen viele Fragen beantwortet und Ängste genommen werden können.
Wir haben es mit „multiplen Krisen“ zu tun. Ob Corona, Klima, Wirtschaft, Pflege… Was ist Ihrer Meinung nach am schwerwiegendsten?
Das ist eine schwierige Frage. Das Schwerwiegende ist, dass die Krisen ineinandergreifen und zu einer individuellen Verunsicherung führen. Der Soziologe Harmut Rosa spricht vom Verfügbarmachen. Ob Gesellschaft, Politik, Bildung, Wirtschaft, Natur: Wir wollen immer alles kontrollieren, in der Hand haben, berechnen und bemessen. Doch das gelingt uns nicht mehr. Wir haben als Gesellschaft verlernt, mit dem Unverfügbaren umzugehen. Und gleichzeitig geht es darum, hoffnungsfroh zu bleiben.
Woraus Hoffnung schöpfen, wenn Wirtschafts- wie Klimaprognosen besagen, dass alles schlimmer wird?
Hoffnung ist eine widerständige Kraft, die uns Menschen geschenkt ist, was nicht heißt, naiv zu sein und zu sagen, dass alles gut wird. Hoffnung heißt, dass wir die Zukunft nicht der Verzweiflung überlassen. Und zwar gemeinsam. Zu Weihnachten singen wir im Lied „Macht hoch die Tür“ den Satz „Es kommt der Herr der Herrlichkeit“. Und er kommt als Neugeborenes. Als Kind, das angewiesen ist auf die Hilfe und Unterstützung anderer. Die Abhängigkeit und das Angewiesensein auf andere gehört zu unserem Menschensein dazu. Das müssen wir begreifen.
Kaum jemand will auf andere angewiesen sein oder von diesen abhängig.
Doch genau um diese Erkenntnis und das Selbstverständnis geht es. Wenn jeder jemanden hat, auf den er schaut, dann hat auch jeder jemanden, der auf ihn oder sie schaut.
Am Beispiel des Pflegekräftemangels lässt sich doch erkennen, dass wir als Gesellschaft damit ein veritables Problem haben?
Wir werden die Pflegekrise nicht lösen, wenn wir nicht an die Grundfragen gehen. Das ist einerseits das Selbstverständnis, dass wir als Menschen auf andere angewiesen sind. Wir würden als Babys ohne Eltern nicht überleben. Die Entwicklungsaufgabe von Kindern ist es, Autonomiefähigkeit zu lernen. Die Entwicklungsaufgabe im Alter oder Situationen der Krankheit ist es, dass wir lernen müssen, uns in die Hände anderer zu begeben. Das fällt uns unendlich schwer. Doch wir müssen es lernen, um erkennen zu können, dass Hilfe annehmen auch etwas Gutes und Mutiges hat.
Das ist das eine. Das andere ist, dass 100.000 Pflegekräfte bis 2030 fehlen.
Das Image der zu Pflegenden muss sich ebenso ändern wie das der Pflegekräfte. Pflege- und Sorgearbeit wird als Reproduktionsarbeit verstanden. Bei Produktionsarbeit geht es immer um Erfolg, Profit und Gewinn gemäß dem Motto „immer schneller, immer mehr“. Die Pflege- und Sorgearbeit funktioniert aber gänzlich anders und nach eigener Logik. Für diese Arbeit brauchen wir Zeit, doch wir versuchen sie ständig in eine Produktionslogik zu pressen. Wir müssen den Eigenwert der Pflegearbeit erkennen und anerkennen. Vor allem, dass sie notwendig ist und ohne sie keine Gesellschaft, keine Wirtschaft möglich ist.
Müssten die Kirchen, egal ob evangelisch oder römisch-katholisch, nicht grundsätzlich lauter auftreten, um darauf aufmerksam zu machen und mehr zu Zulauf wie Zuspruch zu erhalten?
Die Kirchen verschaffen sich in gesellschaftspolitischen Belangen viel Gehör, würde ich meinen. Auch durch die Caritas im katholischen Bereich und die Diakonie im evangelischen. Für mich als Pfarrerin und Diakonie-Direktorin ist Kirche Diakonie und Diakonie Kirche. Was ich als Problem in der öffentlichen Diskussion wahrnehme, ist, dass Nächstenliebe als naiv und romantisch denunziert und disqualifiziert wird. Das halte ich für hochgradig unrealistisch. Wir kommen als Menschen nicht allein und mit ausgefahrenen Ellenbogen durch die Welt, sondern nur miteinander.
Apropos mit- und füreinander: Wird das Spendenaufkommen heuer stagnieren oder rückläufig sein?
2022 ist wirklich ein Jahr der Solidarität, sicher auch aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine. Auch zum Ende des Jahres zeigen sich viele Menschen solidarisch und unterstützen die Arbeit der Diakonie mit Spenden, wir sehen keine Rückläufe.
Die Regierung stellt 50 Millionen Euro bereit, um Obdachlosigkeit zu verhindern. Wie nehmen Sie als Diakonie-Direktorin die Situation derzeit wahr? Was steht zu befürchten 2023, wenn die Heizkosten abgerechnet sind?
Der Sturm wird stärker. Diejenigen, die schon vor der Krise Probleme hatten, trifft es jetzt doppelt. Da rächen sich die Sünden der Vergangenheit wie die Abschaffung der Mindestsicherung und die schlechte Sozialhilfe, die jetzt in der Krise den Ärmsten keinen Halt gibt. Was wirkt, ist Delogierungsprävention auszubauen und die Stromkostenbremse weiterzuentwickeln. Für 2023 brauchen wir mehr. Eine gute Existenzsicherung und Investitionen in leistbares Wohnen. Das hilft allen.