Am „Zauberberg“ ist Kinoabend: Regisseur Bastian Kraft baut mit vier Schauspielern mit erstaunlich eingesetzten Videos eine Krankenanstalt für die Welt von damals und heute.
Ruhe. Geduld. Essen. (Fieber) Messen.
Auf dem Zauberberg ist man als Zuseher unvermittelt wieder im Lockdown. Zwar hat hier oben in der Lungenheilanstalt keiner Corona (wir sind Anfang des 20. Jahrhunderts), aber wenn man nur lange genug, genau genug testet und misst – siebenunddreißigfünfeinhalb –, dann findet sich in allen die gesuchte Krankheit.
Auch Hans Castorp, Hauptfigur in Thomas Manns Jahrhundertroman (ja, er schrieb einige davon), verlernt im Sanatoriums-Lockddown das Leben. Es gibt keinen Grund, das Haus zu verlassen; die Welt da unten grummelt schon in den Vorbeben des Ersten Weltkriegs.
Und in Hans Castorp – der wollte eigentlich nur seinen Cousin besuchen – macht sich rasch die große Resignation breit. Ingenieur mit Büropflicht statt Home Office mit Luftliegekur am Berg, damit lockt man heute wie damals keine jungen Menschen mehr an den Arbeitsplatz. Castorp bleibt also oben, sieben weltentrückte Jahre werden es sein. Man fühlt mit ihm.
Vier sind viele
Oben, das ist im Burgtheater ein zerklüfteter weißer Gipfel – teils Fels, teils Sanatoriumsmauer, rechts unten hängen die Zimmerschlüssel.
Marcella Ruiz-Cruz
Vier Schauspieler erklimmen ihn, Felix Kammerer steigt aus dem Oscarlicht (im Film „Im Westen nichts Neues“ spielt er die Hauptrolle, der Film ist neun Mal nominiert) nach oben, Dagna Litzenberger Vinet, Markus Meyer und Sylvie Rohrer komplettieren die Seilschaft.
Oben aber werden sie viele, sie spielen alle Hans Castorp und dazu noch das zentrale Personal aus Manns Wälzer – mit einem Kniff, den Regisseur Bastian Kraft und seine Schauspieler erstaunlich, begeisternd gut umsetzen: Cousin Joachim, Klinikleiter Hofrat Behrens, die begehrte Kirgisin Clawdia, die bildungsbelückte Frau Stöhr – sie alle werden, vorab gespielt vom Schauspielerinnenquartett, als Videos (von Sophie Lux) auf die zerklüfteten Dreiecke des Felsens projiziert. Das Stimmengewirr zu diesen Videos wiederum sprechen die Schauspieler live.
Kinoabend auf dem Zauberberg
Es gibt also Kinoabend auf dem Zauberberg. Aber wollte man nicht eigentlich weniger Bewegtbild schauen nach der Pandemie – und mehr Theater? Nach dem ersten Erstaunen über die Kunstfertigkeit dieser Livesynchronisation und die Bildmacht des Ganzen macht sich doch ein bisschen ein Beigeschmack wie nach dem Gurgeltest breit (auch, weil die Videos bald überhand nehmen und überzeichnete Fernsehspiel-Vibes ausstrahlen). Hier muss das Theater auf seiner eigenen Bühne gegen seinen größten Konkurrenten antreten – von dem man eigentlich für ein paar Stunden gern seine Ruhe hätte.
Burgtheater/Marcella Ruiz Cruz
Der große Stumpfsinn
Herausgerissen aus dem Sinnieren, zurückgeholt auf den Berg wird man von einer nachgeradezu existenziellen Szene: Fiebermessen, so dekretiert die Oberschwester, dauert sieben Minuten – woraufhin die Schauspieler diese Zeit lang auf der Bühne verharren und nichts tun. Kaum zu glauben, wie schwierig diese Pause ist: Da jault die Social-Media-verkürzte Aufmerksamkeitsspanne im Zuseher laut und schmerzvoll auf.
Die Bilder verwischen sich in Folge wie die Zeit oben am Zauberberg: Moribunde sterben, Clawdia erhört Hans, beim Schneetraum steigt die Kamera hinunter in die Eingeweide des Burgtheaters, wo sich, surreal, ein kleines Abbild der großen Bühne findet.
Burgtheater/Marcella Ruiz Cruz
Beklemmend heutig
Das Destillat aus den Hunderten Seiten beginnt, beklemmend heutig zu schmecken, ohne dass der Abend in die Fallen tappt, die Aktualisierungen sonst auflauern. Der unablässige Austausch feiner Befindlichkeiten unter den Sanatoriumsbewohnern wäre super Twitter-Stoff. Längst befallen vom großen Stumpfsinn jener, die zu viel Zeit für Innenschau haben, debattieren sie über Wissenschaftsfeindlichkeit, das russische Alternativsystem zur strauchelnden Demokratie und die Frage, was einen das alles eigentlich kümmern soll – und man fühlt sich mehr im Heute, als einem lieb ist. Am Schluss dann viel Applaus und große Zustimmung für einen sehenswerten Abend.